1874 wurde die Schweizer Bundesverfassung totalrevidiert. Eine der Neuerungen betraf auch die Schulen. Der Artikel 27 bezog sich in äusserst knapper Form auf den «genügenden» Primarunterricht, der obligatorisch und in den öffentlichen Schulen unentgeltlich sein soll. Seit 150 Jahren gilt also die allgemeine Schulpflicht schweizweit.
Die Volksschule ist heute der einzig verbliebene Ort, wo junge Menschen aus vielen verschiedenen Kulturen, Familienmodellen, Bildungsschichten, Religionen, mit unterschiedlichen Begabungen, ohne und mit Behinderungen, verschiedener politischer Gesinnung, geschlechtlicher Orientierung und unterschiedlichem Aussehen zusammenkommen. Hier lernen junge Menschen, wie man mit dieser Vielfalt umgeht, hier findet soziales Lernen statt, hier lernen sie das Miteinander. Es ist eine dynamische Gesellschaft, in der wir leben, die sich durch eine zunehmende Heterogenität und einen raschen Wandel auszeichnet. Die Schule ist der Ort, wo alle zusammenfinden. In diesem Sinne ist die Schule das Übungsfeld für das gesellschaftliche Leben in einem demokratischen Land. Was die Volksschule auch 150 Jahre nach deren Gründung für die Integration leistet, ist für unsere Gesellschaft mehr als Gold wert.
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention muss in der Volksschule die inklusive Bildung umgesetzt werden. Schon die Umsetzung der integrativen Schule verläuft schwierig und im Schulalltag stossen die Bedürfnisse verschiedenster Kinder und Jugendlichen und die Belastung der Lehrpersonen an Grenzen. Der Fachkräftemangel trägt zusätzlich zur Verschärfung bei, da es an ausgebildetem Personal fehlt, um komplexe Situationen zu bewältigen und eine adäquate Förderung zu gewährleisten. Wer allen Kindern und Jugendlichen gerecht werden will, braucht heute andere pädagogische Kompetenzen als noch vor zwanzig Jahren. Die Anforderungen an die Lehr- und Fachpersonen aber auch an die Infrastruktur sind deutlich gestiegen, die Aufgaben vielfältiger geworden.
Angesichts dieser Herausforderungen an die inklusionsorientierte Volksschule müssen wir dringend nach langfristigen Lösungen suchen. Eine Rückkehr zu Kleinklassen – wie teilweise in anderen Kantonen gefordert – ist keine nachhaltige Lösung. Es ist an der Zeit, die Umsetzung der Speziellen Förderung im Kanton Solothurn weiter zu denken und innovative Ansätze - z.B. neue Modelle in der schulischen Alltagsgestaltung - zu finden, damit integrative und daraus folgend die inklusive Bildung entwickelt, ermöglicht und umgesetzt werden kann. Bis wir so weit sind, braucht es einen einfacheren Zugang zu «Förderklassen», wie sie im Kanton Solothurn bereits bestehen (Spezialangebote, Schulinseln, Leistungsgruppen, etc.), um die zum Teil sehr belasteten Klassen zu entlasten. Ebenso braucht es kurzfristig eine verbesserte, bedarfsorientiertere Zuteilung der Förderlektionen, eine breitere Verankerung der Heilpädagogik in der Ausbildung und mehr Investitionen in Frühförderung und Elternbildung.
Bildung ist ein steter Prozess, der durch Wissen, Können, Begleitung, Förderung und Beziehung entsteht, sich entwickelt und sich immer wieder wandelt. Dieser Prozess braucht «Treibstoff». Bildung ist daher eine Investition in unsere Gesellschaft. Aber Bildung braucht langfristig Ressourcen! Finanzielle und personelle Ressourcen, die erst eine gute, chancengerechte Bildung ermöglichen. Sparmassnahmen und Plafonierungen von Budgets sind darum Gift für die Qualität der Volksschule – auch nach 150 Jahren.
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